1996

Es war die Jubiläumsfahrt des Indienkreis e.V. Rösrath. Bereits zum 25. Mal reiste eine Gruppe von zehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter der Leitung von Diakon Karl Marx zum Arbeitseinsatz nach Indien. Wie bereits in den vergangenen Jahren fuhr die Gruppe von Madras aus zu der Kreisstadt Quilon, im südindischen Bundesstaat Kerala.

Bereits in Madras, der mit ca 6 Millionen Einwohnern, viertgrößten Stadt im 900-Millionen Staat Indien, wurden die Fahrtteilnehmer vom Kulturschock voll getroffen. Menschen, die auf den Straßen schliefen, LKWs, Autos, Rikschas, die auf überfüllten Straßen versuchten, den heiligen Kühen auszuweichen ( und dies erstaunlicherweise auch schafften), 35 Grad Hitze und der Monsunregen, gehörten mit einem Schlag genauso zum Alltag, wie die Gerüche von gebrannten Mandeln, verbranntem Gummi, Fäkalien, Gewürzen und Jasminblüten, die den Reisenden auf nur wenigen Metern entgegenschlugen. Es ist also nicht erstaunlich, dass die Meisten recht froh waren, nach einer Busfahrt quer durch das nächtliche Madras, gegen fünf Uhr morgens endlich auf der Ausbildungsstation "Beatitudes" angekommen zu sein. Dieser Ort, an dem vor fast 20 Jahren die Arbeit des Indienkreises begann, wurde nun für mehrere Tage als Basisstation genutzt. Von hier aus fanden einige Besichtigungen von Hilfsprojekten statt, an denen der Indienkreis beteiligt ist. Ebenfalls wurde hier den Fahrtteilnehmern Indien als Land der Extreme bekannt. Bei einem Gang durch die nahegelegenen Slums gehörten die, trotz größtem Elend, fröhlich lachenden Kinder und Erwachsenen ebenso ins Straßenbild, wie die durch den Monsunregen ganz oder teilweise zerstörten Hütten und die mangels Kanalisation restlos verdreckten Straßen. Spätestens auf diesem Gang wurden die letzten Berührungsängste, die seitens der Inder bei weitem nicht so ausgeprägt waren, wie bei den Gästen aus Deutschland, abgebaut.

Von Madras aus ging die Fahrt dann mit einer Schmalspurbahn quer durch Indiens Süden nach Quilon, dem eigentlichen Ziel und Ort des Arbeitseinsatzes. Da die öffentlichen Verkehrsmittel in Indien zum Schutz vor Diebstählen und Schwarzfahrern vergittert sind, hatte Diakon Marx "für den Fall der Fälle" einen Bolzenschneider im Handgepäck. Die zahlreichen Fahrten auf dieser Strecke und die Tatsache, dass es in den Zügen keinerlei Notausgänge gibt, hatten ihn im Laufe der Zeit vorsichtig werden lassen. Glücklicherweise fand das Gerät außer einem Probeschnitt keine weitere Verwendung.

In Quilon angekommen, wurde die Gruppe sogleich ins Ausbildungszentrum "SREYAS" gebracht. Dieses Ausbildungszentrum ist als Ergebnis der Zusammenarbeit des Indienkreis e.V. mit der örtlichen QSSS, die eine der deutschen Caritas vergleichbare Stelle einnimmt, in den vergangenen fünf Jahren entstanden. Obwohl noch einige Gebäude errichtet werden sollen, hat der Ausbildungsbetrieb dort schon begonnen. Auch die anfangs sehr gespannte Beziehung zum angrenzenden Dorf, das ausschließlich von Hindus bewohnt wird, hat sich wesentlich gebessert. Man hieß die Gruppe mit traditionellen Tänzen willkommen. Die Herzlichkeit des Empfangs versetzte nicht nur die Mitglieder des Indienkreises in Begeisterung, sondern auch die Partner von der QSSS hatten eine derart positive Aufnahme nicht erwartet. Zum Abschluss der Tanzveranstaltungen wurde von den Indern noch die Nationalhymne als Zeichen der religionsübergreifenden Einheit Indiens angestimmt. Gerade in einer Zeit der politischen Veränderungen, in der radikale Hinduparteien einen Christen- und Moslemfreien Staat fordern, muss diese Geste besonders hoch bewertet werden.

Bereits am nächsten Tag begann für die Gruppe die arbeitsreiche Zeit. In aufgrund verschiedenster Krankheiten stark dezimierte Zahl errichtete man gemeinsam mit indischen Arbeitern und Fischern in dem Dorf Koivila ein Landungszentrum. Dieses soll in Zukunft sowohl als Lagerplatz , als auch als Ort für die täglich in den frühen Morgenstunden stattfindende Fischauktion dienen. Bei diesen Fischauktionen verkaufen die Fischer ihren Fang an die Frauen des Dorfes, die ihrerseits den Fisch auf den Märkten weiterverkaufen. Hierfür müssen die Frauen Wege bis zu 40 km in Kauf nehmen. Eine Strecke für die man selbst mit dem Bus in Indien zwei Stunden brauchen kann. Desweiteren sind die Landungszentren gleichzeitig der soziale Mittelpunkt des Fischerdorfes. Hier werden Versammlungen abgehalten, Streitigkeiten beigelegt und Schulungen durchgeführt.

Die Arbeit der jungen Leute des Indienkreis bestand darin, unbehauene Granitblöcke zur Baustelle zu schaffen. Bei Gewichten von bis zu 200kg pro Block, konnten die Steine oft nur mit vereinten Kräften bewegt werden. Notwendig war die umständliche Beförderung, weil das Landungszentrum ein Stück von der Straße entfernt lag und die LKWs aufgrund des vom Monsun aufgeweichten Bodens nicht bis zur Baustelle fahren konnten. Trotz der widrigen Umstände konnte innerhalb von zwei Wochen das Fundament, sowie die Sockelleiste des Gebäudes fertiggestellt werden – für indische Verhältnisse eine ungewöhnlich schnelle Zeit. Eine Weiterarbeit war dennoch nicht möglich. Der Bauunternehmer konnte keinen Flusssand auftreiben, der für die weitere Arbeit notwendig war. Dies bescherte den Arbeitern und auch den Helfern noch einige Tage Pause bis zur Rückreise. Einhelliger Tenor der Indienkreisler: dies war mit Sicherheit nicht der letzte Besuch in Indien. Die Faszination der fremdartigen Kultur, die Gastfreundschaft, sowie die noch über Jahre hinaus notwendige Hilfe überwiegen alle Strapazen.

Ralf Hoffman